Die Schule der Mutmacher

Familienzentren sollen helfen, dass langfristig die Ausgaben für bedürftige Familien sinken. Wie erfolgreich sind diese Einrichtungen? Ein Besuch

Nadine Hölzel verteilt Kugeln aus Styropor auf den Tischen. Daneben legt sie kleine Pinsel, mischt Farben in Töpfen an und schüttet zuletzt ein paar Schoko-Plätzchen auf einen großen Teller. Dann schaut sie zur Tür, wo schon zwei Kinder umherwuseln. Die dazugehörige Mutter packt gerade Kind Nummer drei aus dem Kinderwagen und ruft: „Frühlings-Schmuck basteln? Das ist eine gute Idee. Zu Hause haben wir das noch nicht geschafft.“

Der Basteltreff in der Gemeinschaftsgrundschule Im Brömm in Gelsenkirchen führt Menschen zusammen. An kleinen Tischen sitzen Mütter und Kinder, malen, schneiden, kleben – und reden. „Dabei kann man richtig gut entspannen“, sagt Katrin Winkel (35), Mutter von drei Kindern. Agnieszka Pilgrim (41) nickt: „Außerdem ist der Zusammenhalt ein anderer geworden. Wir sind nähergerückt.“

Der Basteltreff ist ein kleines Mosaikstück in einem Gesamtkonzept. Er ist Teil des Familienzentrums an der Grundschule Im Brömm. Nordrhein-Westfalen war 2006 unter dem Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers (CDU) das erste Bundesland, das Kindertageseinrichtungen zu sogenannten Familienzentren ausgebaut und entsprechend gefördert hat. Betreuung, Bildung, Beratung und Unterstützung sollen gebündelt werden, um Erziehungskompetenz zu stärken, Familien mit Migrationshintergrund besser zu integrieren, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erleichtern und letztendlich für mehr Chancen- und Bildungsgerechtigkeit zu sorgen. Rot-Grün hat diese Projekte fortgesetzt und erweitert.

Für die Qualität steht das Gütesiegel „Familienzentrum NRW“, dessen Kriterien in einem Zertifizierungsverfahren von einem unabhängigen Institut überprüft werden. Alleine im kommenden Kindergartenjahr 2017/2018 werden sich landesweit rund 500 Familienzentren der Zertifizierung stellen.

Laut Familienministerium besitzen die Zentren in NRW „eine Schlüsselstellung“ im Kampf um Prävention. Deshalb werden seit der Neuausrichtung der Förderung im Kindergartenjahr 2012/2013 die Familienzentren vor allem in sozial benachteiligten Gebieten ausgebaut. Bei den Parteien herrscht übrigens eine ungewohnte Einigkeit, dass Familienzentren flächendeckend gegründet werden.

Doch während Familienzentren an Kindertagesstätten in NRW mit landesweit inzwischen rund 3500 Einrichtungen längst alltäglich sind, ist das Angebot an Grundschulen völlig neu und wird in Gelsenkirchen an bislang drei Schulen erprobt. Weitere Zentren sind in Planung. Das funktioniert ähnlich wie in den Kitas: Beratungs-, Bildungs-und Freizeitangebote werden direkt in die Schule geholt. Familien sollen so stark gemacht werden, zudem will man die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule verbessern und so die Bildungschancen von Kindern erhöhen.„In den Kindertagesstätten funktioniert das Konzept der Familienzentren gut, doch dann gibt es diesen Bruch, wenn die Schule beginnt. Dabei hört der Bedarf von Eltern und Kindern ja nicht auf“, erklärt Eva Kleinau (46), Teamleiterin vom Sozialdienst Schule der Stadt Gelsenkirchen. „Im Stadtteil gibt es zahlreiche Eltern und Kinder mit Hartz-IV-Bezug, viele Alleinerziehende und Menschen mit Migrationshintergrund. Da kann man es sich gar nicht leisten, nicht zu handeln. Manche Familien sind schon seit Generationen in Hartz-IV oder werden über Generationen von der Jugendhilfe betreut. Da ist diese Ungerechtigkeit: Das Umfeld, in das ein Kind hineingeboren wird, entscheidet über dessen Bildungserfolg.“

Diese Ungerechtigkeit hatte Rüdiger Schrade-Tönnißen (58) schon lange erkannt. Er ist seit 2014 Schulleiter der Gemeinschaftsgrundschule Im Brömm. 215 Kinder, acht Klassen plus eine Klasse mit Flüchtlingskindern. Zuvor war er 15 Jahre lang Konrektor der Schule. Groß und schlaksig ist er. Sympathisches Lachen. In der Mensa wird er stürmisch begrüßt. Ein Junge rettet sich in seinen Arm, weil es am Tisch Ärger mit dem Sitznachbarn gab. Auf dem Weg zur Sporthalle fällt ihm lachend ein kleines Mädchen um den Hals, ein anderes zieht ihn am Arm, plappert ununterbrochen. Das sieht so harmonisch aus, so vertraut. „Es gibt aber auch viele Kinder, die große Probleme haben, ihre Emotionen unter Kontrolle zu bringen“, erklärt Schrade-Tönnißen. Mit den Jahren sei das immer schwieriger geworden. „In manchen Familien herrscht eine gewisse Trostlosigkeit und das Gefühl, abgehängt zu sein. Viele Kinder brauchen für ihre Lernprozesse individuelle Begleitung, und zwar intensiv. Doch häufig gibt es die im Elternhaus nicht. Viele Eltern kümmern sich nicht um den konkreten Bildungsweg des Kindes.“ Das fange bei nicht ausgeräumten Schultaschen an und höre bei nicht gelesenen Briefen und vergessenen Terminen auf: „Bei vielen ist die Haltung: Wir geben das Kind in der Schule ab, die sollen sich darum kümmern. Irgendwann hatten wir alle im Kollegium das Gefühl, uns fehlt die Kraft, uns fehlen die Leute.“

Da kam die Anfrage der Stadt, ein Familienzentrum zu werden, zur rechten Zeit. „Die Stadt Gelsenkirchen hat zum Schuljahr 2014/15 das erste kommunalfinanzierte Familienzentrum in der Gemeinschaftsgrundschule Sternschule in Kooperation mit dem Caritasverband für die Stadt Gelsenkirchen eingerichtet“, sagt Eva Kleinau. Dieses Modellprojekt ist einmalig in NRW und bildet einen neuen Baustein in der Gelsenkirchener Präventionskette „Erziehung und Bildung von Anfang an“. „Als wir dann nach weiteren geeigneten Grundschulen suchten, wussten wir im Fall Brömm bereits: Die leben das, und die wollen das.“

Schrade-Tönnißen nahm die Idee, Familienzentrum zu werden, als Chance wahr, „damit Programme entstehen, die wir als Schule so nicht liefern können, denn Schule muss sich rasant verändern, damit wir die Schüler möglichst schnell integrieren können.“

Mit einer halben Stelle kam im Januar 2016 dann Nicole Goßmann (45) an die Schule. Die Aufgabe der Sozialpädagogin ist seither, das Familienzentrum zu koordinieren und die Sachmittel zu verwalten. „Wir haben gemeinsam überlegt, wie Probleme in den Familien und mit den Kindern gelöst werden können, zum Beispiel indem man eine Beratungsstelle mit ins Boot holt“, erinnert sie sich. „Außerdem bin ich in die Klassenpflegschaftssitzungen gegangen und habe gefragt, an welchen Angeboten Interesse besteht. Als dann unter anderem ein Eltern-Kind-Basteln genannt wurde, habe ich Nadine Hölzel als Honorarkraft eingestellt.“

Ein gutes Beispiel, wie sich Schulen öffnen können, findet Eva Kleinau: „Wir müssen Eltern aktivieren, dass sie sich an der Bildung ihrer Kinder beteiligen, da dann die Chancen am größten sind, dass es eine gute Bildungsbiografie gibt. Viele Eltern schaffen es einfach nicht aus dem Stadtteil heraus. Aber sie schaffen es, in die Schule zu gehen.“ Angeboten werden Sprechstunden der Sozialpädagogin des Familienzentrums und des Sozialdienstes Schule, Info-Veranstaltungen oder Workshops wie ein Eltern-Einzel-Coaching. Das läuft gerade parallel zum Basteln und soll bei vielen Eltern für ein Umdenken sorgen, da sie begreifen, dass häufig nicht wichtig ist, was man sagt, sondern wie man etwas sagt. Hinzu kommen niederschwellige Angebote wie ein Eltern-Café, gemeinsame Feste oder das Eltern-Kind-Basteln:„Wenn wir die Eltern in die Schule holen wollen, muss es etwas sein, woran sie Freude haben und was ihnen vertraut ist“, erklärt Kleinau. „Das ist eine exklusive Zeit zwischen Eltern und Kindern. Aber auch zwischen den Müttern. Denn auch sie sind Experten – für ihre Kinder. Sie beraten sich gegenseitig. Oder die Kurse werden von Leuten begleitet, die Erziehungsberatung ‚light’ machen können.“

Gefördert wird das Familienzentrum von der Düsseldorfer Wübben Stiftung, die bundesweit Bildungs- und Integrationsprojekte fördert und deren Anliegen in dem Fall vor allem ein gelungener Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule ist. „Der Bildungserfolg von Kindern hängt in Deutschland mehr als in jedem anderen Land von der Herkunft ab. Da darf es nicht sein, dass bei diesem wichtigen Übergang nicht alleine die Leistung entscheidet, sondern herkunftsabhängige Entscheidungs- und Bewertungsmuster von Eltern, aber auch Lehrern“, sagt Markus Warnke, Geschäftsführer der Wübben Stiftung. Die setzt darauf, Eltern, Lehrer, Schüler, aber auch Institutionen mit ins Boot zu holen. Warnke: „Wir müssen Kinder stark machen, Lehrkräfte für die Folgen sozialer Herkunft sensibilisieren, Eltern als Bildungspartner ernst nehmen und Netzwerke mit Unterstützungs- und Fördersystemen schaffen“.

Genau deshalb toben gerade über 20 Zweit- und Drittklässler durch die Turnhalle. Sie haben Sport-AG, eine Kooperation mit einer Gesamtschule, die zwei Lehrkräfte abstellt.

Weiter geplant sind ein Paten-Projekt, bei dem Schüler der weiterführenden Schule Kontakt mit Grundschülern haben und für Kinder, denen der Übergang in die weiterführende Schule bevorsteht, sowie ein Video-Training, in dem sie sich vorstellen und freies Sprechen üben können. Eva Kleinau: „Ein Kind aus der Grundschule verlässt die Grundschule und fängt an der weiterführenden Schule an – und ist wieder ein weißes Blatt. Genau das wollen wir ändern.“

Ob ein Übergang gelungen ist, kann man erst Jahre später beurteilen, sagt Rüdiger Schrade-Tönnißen: „Bildungsbiografisch hat man ja immer wieder Erzählungen von Menschen, die sagen: An der Stelle hat mir jemand den entscheidenden Anstoß gegeben, mich begeistert, mir eine Chance gegeben…“ Vermutlich wird er einer dieser Menschen sein. Ein Mutmacher.

 

Foto: Silvia Reimann