Mitbestimmen statt meckern

Wir trafen Menschen in ganz Deutschland, die Europa prägen – und die Europa prägt. Ohne die EU wäre ihr Leben ganz anders verlaufen. Und sie alle stellen sich jetzt die Fragen: Warum steckt Europa in der Krise? Wie kann man aus dieser Krise gestärkt hervorgehen? Wie kann man Menschen motivieren, sich wieder für die EU zu engagieren, um nicht in nationales Denken abzudriften? Und wie wird Europa unser Leben auch in Zukunft prägen?

Wie ein bunter Blumenstrauß stehen die Flaggen Europas bei Sabine Krink (59) auf dem Schreibtisch. Die Leiterin des „Europe Direct Büros“ im westfälischen Hagen wirkt entschlossen: „Ich möchte die Menschen erreichen, die sich gar keine Gedanken über Europa machen oder die glauben, dass die in Brüssel eh nicht an sie denken.“ Als Europabeauftragte für Hagen und die Märkische Region ist sie in einem Gebiet mit rund einer Million Menschen ständig unterwegs, trifft im Jahr auf bis zu 55 unterschiedlichen Veranstaltungen einige Tausend Menschen. Zirka 3.000 direkte Kontakte verzeichnet ihre Statistik für 2016 bisher – „das sind die Teilnehmer der Veranstaltungen, die Laufkundschaft im Büro und einige Veranstaltungen on top noch nicht mitgezählt.“

„Europe Direct“ ist ein von der Europäischen Kommission ins Leben gerufenes Informationsnetzwerk, das Menschen kostenlos über die EU informiert. Krinks Mission ist eindeutig: Sie will Begeisterung wecken, Vorurteile abbauen, zum Mitmachen und Mitdenken auffordern. Auf Podiumsdiskussionen, bei Vortragsreihen oder Fahrten wie nach Brüssel oder zur Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main sucht sie den Kontakt zu Menschen, für die Europa ganz weit weg ist: „Wenn ich auf das Positive von Europa zu sprechen kommen will, müssen die Leute ihre Hemmung verlieren, wirklich zu sagen, was sie denken.“ Dann sind es scheinbar lockere Veranstaltungen, mit denen sie europaferne Menschen erreicht: „Zum Beispiel wollte ich über europäische Fördermittel berichten und über die Wasserrahmenrichtlinie. Ich machte eine Wanderung um unsere Talsperre, mit Besuch der Lachsstation. Auf diesem Spaziergang erfuhren wir, welche Vorteile die EU-Wasserrahmenrichtlinie hat, da sie es ermöglicht hat, dass man wieder Lachse in Gewässer einsetzen kann. Das alles in einem Kontext, der für den Bürger so interessant ist, dass er mitkommt – und wenn es zunächst nur ist, weil er gerne mal zur Lachsstation will.“

Besonders Veranstaltungen an Schulen sind ihr wichtig. Von Europarallyes bis zu Informationen über Auslandsaufenthalte. Das Erasmus-Programm zum Beispiel, mit dem seit den Achtzigerjahren Hunderttausende junger Menschen Schul- und Studienjahre im Ausland verbracht haben. Eine Errungenschaft der EU, die uns heute selbstverständlich ist. Und da, sagt Sabine Krink, die mit ihrem Mann gemeinsam vier Kinder hat, seien wir bei einem der Gründe für die Europamüdigkeit: „Die Leute sind satt. Darüber vergisst so mancher Dinge wie soziales Verhalten, Hilfsbereitschaft und die vielen positiven Veränderungen durch die EU.“

Gründe für die Europakrise

Im Frühjahr 2016 suchte die Ausstellung „Imagine Europe – In Search of New Narratives“ im Brüsseler Kulturzentrum „Bozar“ nach neuen Wegen, Europa wieder greifbarer, spürbarer zu machen. Einer der Künstler war der Autor Ingo Niermann (47), der seit Jahren die Solution-Reihe herausgibt: Bücher, die sich Gedanken um die Zukunft von Nationalstaaten machen. „Eigentlich war immer klar, dass es mit der Europakrise auch ein Buch über Europa geben sollte“, erklärt er. „Dann traf es sich, dass ich zu einer von José Manuel Barroso initiierten Podiumsdiskussion eingeladen wurde, bei der es darum ging, dass sich Intellektuelle Gedanken über neue Narrative für Europa machen. Da habe ich mir mal überlegt, was solche neuen Narrative sein können.“

Niermanns Ansatz war, dass das Problem des Nationalismus aus der Schwäche der Nationalstaaten heraus entsteht: „Die EU hat jetzt immer mehr Probleme, die ganz ähnlich sind wie die der Nationalstaaten: dass man nur noch von Sachzwängen redet. Ich habe gefragt: Ist es nicht verrückt, die EU ist heute die größte Wirtschaftsmacht der Welt, größer als die USA, größer als China, aber es gibt über die Europäische Union gar keine richtigen Verschwörungstheorien.“

Die Organisatoren der Ausstellung im Bozar fanden die Idee, Verschwörungstheorien über die EU zu entwickeln, spannend und luden Ingo Niermann ein, an der Ausstellung teilzunehmen. Niermann: „Ich habe für die Ausstellung drei Verschwörungstheorien entwickelt. Die eine, dass die EU eigentlich ein Projekt Deutschlands ist, nachdem es zwei Weltkriege verloren hat und sich dann in Europäische Union umbenannt hat, um eigentlich noch mal denselben Expansionskrieg wie im Zweiten Weltkrieg zu führen. Eine andere Geschichte, dass die ganze EU eine luxemburgische Verschwörung ist, denn die ganz wesentlichen Ideen der europäischen Einigung sind immer von Luxemburg ausgegangen. Die Europäische Währungsunion war eine Idee des luxemburgischen Präsidenten. Luxemburg stellt nur ein Promille der EU-Bürger, aber hat schon drei oder vier von zwölf Ratspräsidenten gestellt … Und dann als Drittes die Verschwörungstheorie, dass es gar keine Verschwörungstheorien gibt – wie kann es eigentlich sein, dass es über ein so großes Gebilde wie die Europäische Union keine Verschwörungstheorien gibt?“

Auf Tafeln hingen Niermanns Ideen im Kulturzentrum Bozar. Gleich neben Exponaten des niederländischen Architekten Rem Koolhaas, mit dem er künftig weitere Projekte zum Thema Europa plant. Denn noch immer sei Europa mehr ein Bündel von Einzelstaaten als etwas Ganzes. „Europa hat es geschafft, unsichtbar zu bleiben. Und wenn es unsichtbar ist, kann sich keine richtige Empathie bilden, keine richtige Begeisterung für das Ganze.“ Viel zu wenig seien die Bürger mit eingebunden worden. Und viel zu viel sei daher fremd geblieben. „Wir erleben es ja auch bei der Fremdenfeindlichkeit: Wo ist die Fremdenfeindlichkeit am größten? Dort, wo man Ausländern konkret gar nicht ausgesetzt ist.“

Eben diese Themen, diese Feindlichkeit aus Unwissen, dieses Desinteresse sind es, die Nino Haratischwili (33) gerade umtreiben. Die aus Georgien stammende Theaterregisseurin, Dramatikerin und Romanautorin schrieb mit ihrem dritten Roman „Das achte Leben (Für Brilka)“ eine unglaublich packende Familiengeschichte. Und zugleich eine Geschichte Europas aus östlicher Perspektive. Sie selbst hatte in Georgien eine deutschsprachige Schule besucht, kam zunächst als Kind, später als Zwanzigjährige nach Deutschland. Und blieb. Und doch fühlt sie immer wieder eine Art Parallelwelt, in der viele Deutsche leben, für die Europa viel zu selbstverständlich geworden ist: „Da ist alleine die Tatsache, dass ich acht Jahre lang mit der Ausländerbehörde zu tun hatte und diese Erfahrung den meisten meiner deutschen Freunde fehlt. Sie brauchten nicht für jedes Land ein Visum, kennen die Grenzen und Hürden nicht.“

Als sie nach Hamburg zog, wussten viele Leute gar nicht, wo Georgien liegt: „Das war irgendwo im Osten und interessierte auch nicht so. Das hat sich verändert. Es gibt eine Form von Sensibilisierung, leider durch Dinge wie die russische Politik oder das, was in der Ukraine passiert. Genau wie mit Syrien:  Bis es einen auf eine tragische Art und Weise selber betraf, interessierte es niemanden groß. Dabei sollte man doch bis zu einem gewissen Grad offen sein, sich mehr dafür interessieren und über den eigenen Tellerrand hinausschauen.“

Dass sie inzwischen auf Reisen nicht mehr in der Non-EU-Schlange anstehen muss, hat Nino Haratischwili als großes Privileg empfunden – „gleichzeitig hatte es auch für mich aber einen komischen Beigeschmack, ich hatte das Gefühl, als würde ich meinesgleichen verraten, denn ich war immerhin acht Jahre lang daran gewöhnt, in genau dieser Schlange zu stehen.“

Europa leben und fühlen

Für Simon Flambard (48) könnte das bald umgekehrt so sein. Der Englischlehrer aus Bielefeld lebt seit Jahren in Deutschland. Bislang waren Dinge wie Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis nie ein Problem. Dank der EU. Durch den Brexit könnte sich das ändern: „Ich bin mit der EU großgeworden. Durch den Brexit wurde mir bewusst, was das eigentlich bedeutet.“ Er ist sicher, heute würden selbst die Brexit-Wähler anders entscheiden. Doch jetzt ist er es, der eine Entscheidung treffen wird: „So wie es aussieht, ist es besser für mich, bald die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen.“

Grenzenlos reisen, in zahllosen Ländern zuhause sein, frei sein – das geht eben nur mit einem vereinten Europa, zu dem man gehört. Die Düsseldorfer Journalistin Anja Kühner (49) lebt diese Freiheit seit Jahren. Sie reist quer durch Europa und übernachtete schon in fast 20 Ländern bei den Menschen direkt im Wohnzimmer. Sie ist neugierig auf ihren Alltag, ihr Leben. „Man verbindet mit einem Land plötzlich persönliche Geschichten, taucht in die Probleme der Leute ein und hat nicht nur diese Hotelperspektive“, erzählt sie.

Umgekehrt bezog Anja Kühner auch ihre eigene Besucher-Matratze, „denn Gäste bringen die Welt in deine Wohnung. Sie lassen dich an ihren Reisen teilhaben und bezahlen ihre Übernachtung mit Geschichten.“ Mit „(Fast) gratis reisen“ schrieb Kühner sogar einen Guide durch die Gastfreundschaftsnetzwerke (www.anjakuehner.de). Außerdem ist sie Vorsitzende von BeWelcome, einem kulturübergreifenden Netzwerk, das es Menschen in allen Ländern der Welt ermöglicht, eine Übernachtungsgelegenheit zu teilen und Menschen zu treffen. – Anja Kühner selbst hat so mehr als 150 Leute getroffen und findet, „ohne die EU wäre da vieles eher mühsam gewesen.“

Menschen aus ganz Europa kommen auch zu Prof. Dr. Markus Kotzur. Allerdings nicht zum Couchsurfen. Eher weil sie seine Vorlesungen spannend finden und die Möglichkeiten des Europa-Kollegs Hamburg nutzen, das sowohl Studiengang, wissenschaftliches Forschungszentrum und Bürgerdialog bietet und wo Kotzur geschäftsführender Direktor des Instituts für Europäische Integration ist. „Wir sind eine international zusammengesetzte Gruppe, und es ist interessant, dass wir auch viele Studierende aus Drittstaaten haben“, erklärt er und nennt deren Gründe: „Weil sie die EU für einen wichtigen globalen Akteur in der Wirtschaft halten, weil sie einen Arbeitsplatz innerhalb der EU suchen oder sich außenpolitisch für die Arbeit der EU interessieren.“

 Egal, ob die Studierenden aus der EU oder aus Drittstaaten kommen, die allgemeine Krise sorgt bei den meisten für eine „Jetzt erst recht“-Stimmung, findet Kotzur: „Gerade in diesen Krisenzeiten sind sie daran interessiert, zu gucken, welche Antworten die Wissenschaft auf Fragen der ‚Crises-Governance‘ geben kann.“ Denn gerade in dieser Kumulation der Krise gelte es, den Überblick zu behalten: „Dass die EU von Krisen getrieben ist, ist ja nichts Neues. Nur haben wir momentan sehr viele Krisenphänomene, die zeitgleich zusammenkommen und die ja auch schon von globalen Krisenphänomenen begleitet werden. Deshalb ist es sehr wichtig, zu gucken, welche einzelnen Krisen wir eigentlich ausmachen können: die Finanzkrise, die zu einer Staatsschuldenkrise geworden ist, die Flüchtlingskrise, die Rechtsstaatskrise mit Blick auf Polen und Ungarn, dann die Verwerfungen, die der Brexit mit sich bringen wird. Das Konzept eines Studiengangs wie dem unseren ist da hilfreich, da wir interdisziplinär Rechts-, Politik- und Wirtschaftswissenschaften zusammenführen und fragen: Wie kann man politisch gegensteuern? Was ist ökonomisch zu tun? Und was ist rechtlich zu machen?“

 Die Bürger seien einfach nicht früh genug mitgenommen worden, findet auch er: „Die Verunsicherung treibt die Leute jetzt dazu, zu glauben, dass sie in ihrem kleinen, geschützten Bereich wieder unabhängig von der großen bösen Welt leben können, dabei können wir nicht auf der einen Seite davon träumen, alles wie im 19. Jahrhundert in einem abgeschlossenen Nationalstaat erledigen zu können, aber zeitgleich mit der ganzen Welt via Internet kommunizieren. Das wird nicht funktionieren. Ich glaube, man muss hier – und das dürfte die wichtigste Herausforderung sein – den Menschen klarmachen, dass Globalisierung  politisch gestaltbar ist – und dass Akteure wie die EU etwas dazu zu sagen haben.“

In welche Richtung also treibt die EU? Welche Nachrichten über Krisen, nationale Tendenzen, Fremdenangst und Hass wird Linda Zervakis (41) künftig noch in der Tagesschau verkünden müssen? Die Tochter griechischer Einwanderer sitzt in einem Hamburger Café und schaut in den tristen Herbsthimmel. Dass sie immer wieder als erste Tagesschau-Sprecherin mit Migrationshintergrund bezeichnet wurde, stört sie nicht. Komisch findet sie es dennoch. Denn eigentlich fühlt sie sich als Europäerin.

Doch bei ihrem letzten Besuch in Griechenland überkamen sie beim Anblick mancher Urlaubsorte zum ersten Mal Zweifel am Gedanken der Europäischen Union: „Es ist schon ziemlich trostlos dort. Irgendwie konnte ich verstehen, dass viele sauer auf das sind, was sich EU nennt – weil der Maßstab einfach extrem hoch ist, und für Länder wie Spanien, Portugal oder Griechenland ist es schwer, da mitzuhalten. Es ist einfach kein Geld da.“

Angst vor dem, was passiert

Und auch das, was sich zugleich in Deutschland und zahlreichen anderen EU-Ländern abspielt – nationale Tendenzen, Fremdenangst, Ausländerhass –, macht der zweifachen Mutter große Sorge: „Vielleicht sind wir zu lange auf diesem Plauschkurs unterwegs gewesen, vielleicht ist es aber auch eine Art Langeweile. Es gibt ja nichts anderes, auf das man in Deutschland sauer sein kann – die Wirtschaftszahlen stimmen, die Arbeitslosenzahlen sind so niedrig wie nie zuvor. Vielleicht haben einfach viele Angst, dass die ‚Fremden‘ das, was sich gerade so lauwarm temperiert anfühlt, wieder kaputt machen. Ich finde die Stimmung extrem – und offen gesagt: Ich weiß nicht, wie extrem es noch wird, aber mir macht es Angst.“

Für eine NDR-Reportage machte Linda Zervakis kürzlich ein Experiment: „Wir wollten einen Test machen, wie Menschen auf Nähe und Distanz reagieren. Dafür setzte ich mich, aber auch ein weibliches Model, ein blonder junger Mann und ein seit einem halben Jahr in Deutschland lebender und sehr gepflegt aussehender Syrer nah neben Menschen. Bei dem Syrer standen die Leute entweder auf oder drehten sich demonstrativ weg. Später erzählte er mir, dass sie auch in der U-Bahn aufstehen und sich woanders hinsetzen.“ Sie selber sei nie angefeindet worden. Und doch hätten gerade ihre Eltern auch immer eine gewisse Kälte gespürt. Vielleicht sollten die Menschen einfach mal wieder mehr reisen, lächelt Zervakis: „Dann kommt man aus dieser Komfortzone heraus und kann sehen, was für ein toller Kontinent dieses Europa mit all seinen Errungenschaften ist.“

 

Fotos: Axel Martens